Wer im Sternen Walchwil zu Tisch sitzt, kann sich ganz und gar der Begleitung und dem Essen hingeben. Die einzige Entscheidung liegt in der Anzahl Gänge, gerne können zudem kulinarische Abneigungen oder Unverträglichkeiten angegeben werden. Um den Rest kümmern sich Noémie und Giorgio Bernard, das Vater-Tochter-Gespann in der Küche mit Seeblick. Anfangs hätten sie noch à la carte gekocht, so die Küchenchefin, inzwischen ist das Menu surprise Kennzeichen und Konzept zugleich. Alle zwei Wochen wird gewechselt, mitunter mit fliessenden Übergängen, dann etwa, wenn einzelne Komponenten schon ausgegessen oder als einzige noch vorrätig sind. «Dadurch wird es wunderbar vielseitig, für die Gäste genauso wie für uns; gleichzeitig liegt unser Food Waste nahezu bei null», nennt Noémie Bernard die Vorzüge des Überraschungsmenüs.
Menü nach Marktangebot
Markt und Saison sind bei dessen Zusammenstellung entscheidend. «Die Lebensmittel geben vor, was läuft, am liebsten solche aus der nahen und näheren Umgebung.» Der Impuls, was daraus werden könnte, kommt jeweils von Noémie, feingeschliffen werden die Gerichte zusammen mit ihrem Vater, die finale Entscheidung liegt dann wieder bei ihr. So geben sich frische Herangehensweise und jahrzehntelange Erfahrung in jedem Bissen die Hand. Die Gastronomie nämlich hat Noémie Bernard im Blut – vor ihrer Zeit am Zugersee haben ihre Eltern ein Restaurant im Glarnerland geführt, sie war bereits als Kind immer mittendrin und hat bei der Berufswahl nicht lange gezögert. Ihre Ausbildung absolvierte sie im Walserhof Klosters, danach legte sie Halt im Bellevue Palace Bern und im Parkhotel Vitznau ein, bevor sie schliesslich zu Tanja Grandits nach Basel wechselte.
Eine Frage der Einstellung
Die Zeit bei Grandits war ihre einzige Station unter weiblicher Führung. An grosse Unterschiede zu männergeführten Küchen erinnert sie sich nicht. «Für mich ist das eine Einstellungssache. Es ist ein harter Beruf, keine Frage. Das ist aber kein Geheimnis.» Natürlich seien Frauen das feinere Geschlecht, fügt sie an, was andere Herangehensweisen mit sich bringe. «Wir agieren meist mit mehr Fingerspitzengefühl, haben ein Gespür für Gesten, die vielleicht klein scheinen, aber eine grosse Wirkung haben.» Sie selbst kümmert sich bei Beerdigungsessen beispielsweise immer um Blumen und eine persönliche Karte für die Trauerfamilie. «Ob das ein Mann auch machen würde, weiss ich nicht.»
Ansonsten sind für Bernard in der Geschlechterfrage vor allem zwei Dinge ausschlaggebend: die Familienplanung und die Wahrnehmung von aussen. Zu Ersterem sagt sie: «Dass es in der Gastronomie nur so wenige Frauen bis ganz an die Spitze schaffen, hat viel mit der Familienunvereinbarkeit zu tun. Wer beides möchte, muss sich wahnsinnig gut organisieren und sehr viel Unterstützung einholen. Tanja Grandits hat auch ein Kindermädchen beschäftigt.» Der zweite Punkt fällt der 32-Jährigen oft beim Verabschieden ihrer Gäste auf. «Mir ist es wichtig, dies persönlich zu tun. Dabei sind die Gäste regelmässig überrascht. Weil eine junge Frau aus der Küche kommt und das nach wie vor ein ungewohntes Bild ist.»
Mit ihren Eltern im Sternen Walchwil seit 2018 auf Punktekurs: die 32-jährige Noémie Bernard
Selbstständigkeit en famille
Eine unfreiwillige Exotinnenrolle, der Noémie Bernard mit einer herzlichen und zugänglichen Art zu begegnen versucht. «Nur so lassen sich Hemmschwellen abbauen und festgefahrene Narrative umschreiben», ist sie überzeugt. Bei ihr kam der Wunsch nach einem eigenen Betrieb zeitgleich mit jenem nach einer beruflichen Veränderung. Warum nicht gleich den ganz grossen Schritt machen, habe sie sich damals gefragt und gleich gewusst: «Wenn ich das Abenteuer Selbstständigkeit wage, dann zusammen mit meinen Eltern. Ihre Erfahrung ist unverzichtbar.» Diese wiederum waren sofort begeistert von der Idee ihrer Tochter. Den zu diesem Zeitpunkt leer stehenden Sternen haben sie im Internet gefunden, sich mit einem Probeessen in die Herzen der Besitzerfamilie gekocht – und schliesslich 2018 mit Sack und Pack den Kanton gewechselt. Ein radikaler Neuanfang, für den sich die Familie sofort wieder entscheiden würde. «Dass uns hier noch niemand kannte, hat uns den Start sehr erleichtert.»
Der Region verbunden
Inzwischen sind die Bernards in ihrem neuen Zuhause ebenso angekommen wie verankert. Noémie und Giorgio stehen in der Küche, Anita agiert als Gastgeberin, vier weitere Mitarbeitende greifen dem eingespielten Trio unter die Arme und auch viele lokale Lieferanten sind über die Jahre zur Familie geworden. Die Eier sind aus dem Dorf, Gemüse und Obst aus Hünenberg, Trüffel, kleine Kiwis, rotfleischige Zitronen und Lorbeerblätter gibt die Umgebung ebenfalls her, Kräuter und Blumen für die Garnituren wachsen im eigenen Gärtli. Auch beim Fleisch halten sich Tochter und Vater an die Region. «Biobauer Adrian Iten aus Oberägeri schlachtet ein Tier pro Monat, dessen Fleisch dann unter seiner Kundschaft aufgeteilt wird. Dadurch ist es begrenzt, so, wie es früher üblich war. Daneben beliefert uns Markus Heinzer aus Muotathal.»
Gradlinige Handschrift
Im Zusammenspiel bereiten die Produkte die Basis einer Küche, die unverfälscht und zugänglich ist und die einzelnen Komponenten für sich sprechen und schmecken lässt. So auch das Tatar, welches Noémie mit Itens Rindshuft modern und schnörkellos interpretiert. Begleitet wird das Fleisch von Schnittlauch, Pistazien, Schalotten, Kapern, Essiggürkchen, Eigelb und hausgemachtem Pesto aus getrockneten Tomaten, serviert im hausgebackenen Bretzeli. Dass es ehemalige Stammgäste gibt, die den Bernards deswegen aus dem Glarnerland nachreisen, verstehen wir beim ersten Bissen. Wöchentlich stehe mindestens ein Auto mit Glarner Kennzeichen vor dem Restaurant, verrät uns Giorgio beim Abschied.